Beim wirtschaftlichen Fortschritt niemanden zurücklassen

Seit mehr als einem Jahrzehnt widmet sich das von der Universität Kassel geleitete exceed-Zentrum ICDD dem Thema „Decent Work“.

Ein Markt für Obst und Gemüse in Lahore, Pakistan

Pakistan gehört zu den wichtigsten Mango-Exporteuren weltweit. Aus Sicht von Dr. Mubashir Mehdi ist das eigentlich ein Erfolg. „Wir sehen hier, wie sich ein traditionelles Produktionssystem modernisieren und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig werden konnte“, so der Betriebswirtschaftler und Experte für Supply-Chain-Management an der University of Agriculture Faisalabad. „Das Problem ist nur: Gerade diejenigen, die am härtesten arbeiten, die Mangopflückerinnen und -pflücker auf den Feldern, spüren von der Modernisierung zu wenig.“ Viele arbeiten nach wie vor als schlecht bezahlte Saisonkräfte, bis zu 16 Stunden am Tag, ohne Krankenversicherung und Sozialleistungen, im Freien campierend, geplagt von Moskitos, Parasiten und Pflanzenschutzgiften.

Warum ist das so? Und wie kann man es ändern? Diesen Fragen geht Mehdi im Rahmen des Forschungsprojekts Global Agricultural Production Systems nach. Es ist Teil des größeren Forschungsverbundes International Center for Development and Decent Work (ICDD), der von der Universität Kassel geleitet und koordiniert wird und zu dem insgesamt acht Universitäten aus acht Ländern gehören. „Unser Hauptziel ist es, die Bedingungen für menschenwürdige Arbeit weltweit zu untersuchen“, so ICDD-Leiter Prof. Dr. Christoph Scherrer. „Am Beispiel Pakistans kann man deutlich sehen, dass ökonomischer Fortschritt, so wichtig er auch ist, nicht automatisch zu sozialer Aufwertung und damit zu besseren Arbeitsbedingungen führt. In der Forschung zu Decent Work wurde dieser Aspekt lange vernachlässigt – diese Lücke wollten wir schließen.“

Interdisziplinärer Ansatz

Dabei setzt das 2009 gegründete und bis 2022 im Rahmen des exceed-Programms geförderte Netzwerk auf einen interdisziplinären Ansatz: Fachleute aus Soziologie, Betriebswirtschaft, Agrarwissenschaft und Ingenieurwesen arbeiten zusammen. „Das war am Anfang für viele völlig neu“, erinnert sich ICDD-Geschäftsführerin Birgit Felmeden. „Bei unseren ersten Netzwerktreffen saßen die Sozialwissenschaftler auf der einen und die Agrarwissenschaftler auf der anderen Seite und haben in völlig verschiedene Richtungen diskutiert.“

Doch dann habe sich relativ schnell gezeigt, wie effektiv die Zusammenarbeit sein kann. Christoph Scherrer erläutert das noch einmal am Beispiel der Mangos aus Pakistan. Um die Wertschöpfungskette so zu optimieren, dass der Gewinn für die Arbeiterinnen und Arbeiter höher ausfalle, müsse man die Abläufe aus allen möglichen Perspektiven analysieren, erklärt er. „Die Agrarexpertinnen und -experten wissen, wo welche Mangos ideal gedeihen und wie man sie pflegen muss, damit sie nicht von Schädlingen befallen werden. Unsere Ingenieurinnen und Ingenieure erforschen, wie Kühlhäuser gebaut sein müssen und bei welchen Temperaturen Mangos am besten gelagert und transportiert werden. Fachleute aus Soziologie und Politikwissenschaft in unserem Netzwerk analysieren politische und ökonomische Rahmenbedingungen.“

Die Forschungsqualität steigern

Mit seinen vielfältigen Projekten und Aktivitäten trägt das ICDD unter anderem zum Erreichen des Nachhaltigkeitsziels (SDG) Nummer 8 bei: der Förderung von dauerhaftem und nachhaltigem Wirtschaftswachstum, produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit. Neben der Leitung und Koordination von Forschungsprojekten ist die Lehre ein zweiter Schwerpunkt. Ein Graduiertenkolleg an der Universität Kassel bildet seit 2010 Promovenden aus, von denen viele ihr Wissen inzwischen als Entscheidungsträgerinnen und -träger in ihren Heimatländern anbringen können. Auch profitieren Partnerhochschulen weltweit in vielfältiger Weise von der fachlichen Expertise aus Deutschland. Davon berichtet Javier Becerril, ICDD-Koordinator an der Universidad Autónoma de Yucatán (UADY) in Mexiko: „Die Möglichkeit des akademischen Austausches hat uns deutlich vorangebracht, auch beim Aufbau von Sprachkompetenz. Die Qualität unserer wissenschaftlichen Publikationen ist deutlich besser geworden.“

Seit Anfang 2020 ist das ICDD in einer Übergangsphase. „Die reguläre exceed-Förderung ist 2019 ausgelaufen, nun haben wir in einer Transferphase bis 2022 Zeit, neue Drittmittel zu akquirieren, um den Fortbestand des Netzwerks zu sichern“, so Christoph Scherrer. Zudem könne man so die seit Januar 2020 neu geförderten Zentren in der herausfordernden Anfangsphase organisatorisch unterstützen.

Das Thema Nachhaltigkeit mitsamt der in den SDGs formulierten Herausforderungen ist durch das Engagement des ICDD in der deutschen Hochschullandschaft sichtbarer geworden. Mit dem Projekt Global Partnership Network (GPN) ist es der Universität Kassel gelungen, ein weiteres exceed-Zentrum zu gründen, das sich in Forschung, Lehre und Bildung mit Möglichkeiten und Grenzen von globalen Partnerschaften in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Weltwirtschaft und Wissensproduktion befasst. Damit trägt es zum Erreichen von SDG 17 bei (Partnerschaften für die Ziele). „Aber das ist noch nicht alles“, sagt ICDD-Geschäftsführerin Birgit Felmeden. „Die Universität Kassel plant die Gründung eines Nachhaltigkeitszentrums, in dem alle SDGs mit jeweils einer Professur abgebildet werden.“

 

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